Wie sollte Europa mit seiner kolonialen Vergangenheit in Afrika umgehen? Eine deutsch-afrikanische Expertenrunde fordert einen differenzierten, ganzheitlichen Diskurs – und Entschlossenheit.
Veranstaltungsbericht zum Herrenhäuser Forum “Europas koloniales Erbe in Afrika” mit Dr. Christiane Bürger, Prof. Dr. Andreas Eckert, Prof. Dr. Albert Guaffo, Prof. Dr. Gesine Krüger und René Aguigah (Moderation). Eine Veranstaltung der VolkswagenStiftung in Kooperation mit dem Deutschlandfunk im Xplanatorium im Schloss Herrenhausen am 28. Januar 2020.
René Aguigah von Deutschlandfunk Kultur moderierte die Veranstaltung. (Foto: Philip Bartz für VolkswagenStiftung)
Zwei Kontinente und ein langer Prozess
“Die VolkswagenStiftung fühlt sich dem afrikanischen Kontinent sehr verbunden”, betont Katja Ebeling. Sie leitet das Veranstaltungsprogramm der Stiftung und moderiert den ersten Teil des Abends zum Umgang mit den Folgen europäischer Kolonialherrschaft. Seit dem Jahr 2008 habe ein Fokus auf der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses vor Ort gelegen, so Ebeling. Jetzt liege der thematische Schwerpunkt auf globalen Herausforderungen – zu denen die Suche nach Strategien für die Aufarbeitung kolonialer Folgen zähle. Die Systeme der Gewalt und Repression wirkten sich auch Jahrzehnte nach dem politischen Beginn einer Dekolonisation auf europäische wie afrikanische Perspektiven aus. “Dieses Thema ist so umfassend wie zwei ganze Kontinente und vier bis fünf Jahrhunderte ihrer Geschichte”, pflichtet René Aguigah bei, der den zweiten Teil des Podiums für eine Aufzeichnung des Deutschlandfunks moderiert.
Forschungsgeschichte und Wissenschaftsvermittlung
Prof. Dr. Gesine Krüger, Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich, stellt gleich zu Beginn einen wichtigen Bezug des Themas zu einem Forscher der Universität Hannover her, der sogar im Publikum sitzt: “Helmut Bley hat als Professor am historischen Seminar in den Siebzigerjahren eine neue Kolonialgeschichtsschreibung begründet, die von Afrika her denkt, neue Quellen erschließt und dabei gegen den Strich denkt.”, so Krüger. Bereits im Jahr 1968 habe er die These vom Völkermord der deutschen Kolonialherren an den Nama und Herero in Namibia belegt – seither sei das Thema publik, auch wenn der Diskurs über Entschuldigungen und Entschädigungen erst jetzt aktuell sei. Krüger plädiert dafür, die Forschungen der vergangenen Jahrzehnte nicht zu übersehen. Vielmehr stehe heute vor allem der Vermittlungsauftrag der Wissenschaften im Vordergrund, sagt sie: “Wir müssen öffentlich debattieren.” Dabei warnt Krüger vor Gewissheiten und Eindimensionalitäten: “Wir müssen die Kolonialgeschichte als Teil der ganzen Geschichte Afrikas sehen.”
Prof. Dr. Gesine Krüger (Mitte), Historisches Seminar, Universität Zürich. (Foto: Philip Bartz für VolkswagenStiftung)
Gemeinsamkeiten und Differenzierungen
Statt eines “Blicks vom Feldherrenhügel”, so Krüger, gehe es darum, Afrika forschend Zeit und Muße zu widmen, nicht nach schnellen Lösungen zu suchen. Sich von einem wissenschaftlichen Universalismus zu verabschieden, könne zum Beispiel bedeuten, Gemeinsamkeiten zu entdecken, die auf unterschiedlichen Kontinenten historisch eben anders ausgeprägt seien. Viele Europäer, so Krüger, seien zum Beispiel überzeugt, ihre Vorfahren haben die Alphabetisierung nach Afrika gebracht. “Aber natürlich kannten die afrikanischen Kulturen, wie alle anderen auch, bereits zuvor eigene Zeichensysteme.” Mit einer größeren Perspektive bestehe auch Hoffnung, trotz einer Dekolonisierung global relevante Ideen wie Freiheit und Emanzipation gemeinsam weiterzudenken.
Prof. Dr. Andreas Eckert (links) forscht am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin. (Foto: Philip Bartz für VolkswagenStiftung)
Vorwürfe und Behauptungen
Auch Prof. Dr. Andreas Eckert vom Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin plädiert für eine differenzierte Betrachtung. Entgegen eines immer noch stark pauschalisierenden Afrikabildes handle es sich um einen riesigen, vielschichtigen Kontinent. Dennoch ist Eckert sicher: “Blutige Auseinandersetzungen können nicht durch den Hinweis auf den Bau von Straßen und Schulen weggeredet werden.” Die verhärtete Konstellation gegenseitiger Vorwürfe lasse sich nur durch Kleinstarbeit aufbrechen. Zwischen polarisierenden Behauptungen wie “die Afrikaner sind selbst schuld, dass sich ihre Staaten nicht entwickeln” und “in den aktuellen neokolonialen Strukturen ist eine faire Entwicklung gar nicht möglich” könne es gar keine einfachen Antworten geben, betont Eckert. Bis zu den Siebzigerjahren seien afrikanische Staaten für die Weltwirtschaft vor allem als Rohstofflieferanten interessant gewesen – seither sei das Interesse an afrikanischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern am internationalen Markt gering geblieben.
Infrastruktur und Wirtschaftsordnung
Es gehe um die Herausforderung, ökonomische Rollen aufzubrechen, führt Eckert aus: “Wie könnten afrikanische Staaten in Zukunft mit ihren reichen Ressourcen umgehen?” Deren Abbau schaffe zwar Wachstumsraten, aber kaum Arbeitsplätze. Zu Beginn der Unabhängigkeit vor über 50 Jahren seien viele Staaten durch die koloniale Vergangenheit wirtschaftlich nur auf Rohstoffe ausgerichtet gewesen. “Darüber hinaus gab es kaum Infrastruktur und Industrie”, erklärt Eckert. Der Neustart in finanzieller und technologischer Abhängigkeit von Europa habe vor allem die Interessen der ehemaligen Kolonialherren und weniger lokaler Eliten bedient. Eine paternalistische Grundhaltung habe sich bis heute oft nicht verändert. “Wir brauchen eine neue Wirtschaftsordnung, die für Afrika echte Zukunftsperspektiven schafft und die Menschen dort nicht weiterhin im Regen stehen lässt”, resümiert Eckert.
Prof. Dr. Albert Gouaffo ist Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft sowie interkulturelle Kommunikation an der University of Dschang, Kamerun. (Foto: Philip Bartz für VolkswagenStiftung)
Ausbeutung und Kontinuität
Prof. Dr. Albert Gouaffo ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft sowie interkulturelle Kommunikation an der University of Dschang in Kamerun. Er findet deutliche Worte für die ökonomischen Auswirkungen des Kolonialismus: “Es handelte sich um ein System der gewaltsamen wirtschaftlichen Ausbeutung, von der Europa profitiert hat und noch immer profitiert.” Die europäischen Staaten seien angetrieben gewesen von der nationalistischen Konkurrenz um Weltreiche. Ihre vorrangigen Interessen seien dabei das Schaffen von Siedlungsflächen für die eigene Bevölkerung sowie das Erschließen von Rohstoffquellen für die aufblühende Industrie und von Absatzmärkten für deren Fertigprodukte gewesen. Die Strukturen seien bis heute unverändert geblieben, so Gouaffo: “Bodenschätze werden aus Afrika entnommen, zurück kommen Produkte.”
Selbstbewusstsein und Handlungsbedarf
In diesem Zusammenhang sei es auch wichtiger denn je, kritisch nach den Profiteuren von Entwicklungshilfe zu fragen – oft handle es sich um europäische Firmen, die zum Beispiel große Bauaufträge erhielten. Doch das Bewusstsein vor Ort wachse, wie Gouaffo betont: “Die europäische Rhetorik übt heute keinen Einfluss mehr auf die selbstbewusst gewordenen ehemaligen `Untertanen´ aus.” Mit dem kolonialen Erbe werde er aber auch in Dschang täglich konfrontiert: Die Universität, an der er lehrt, ist zum Beispiel eine Kolonialgründung. In Europa sieht Gouaffo hingegen jenseits einer gleichberechtigten Diskussion über Dekolonisierung Handlungsbedarf: “Disziplinen wie Ethnologie und Afrikanistik oder Institutionen wie Museen und zoologische Gärten müssen ihr Selbstverständnis hinterfragen.” Für wesentlich hält er, Dinge offen zu thematisieren. Das fange bei Lehrbüchern an: “Die Geschichte des Kolonialismus darf nicht aus der Herrscherperspektive erzählt werden.”
Dr. Christiane Bürger arbeitete für die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. (Foto: Philip Bartz für VolkswagenStiftung)
Perspektivwechsel und Erinnerungspolitik
Dr. Christiane Bürger, Kuratorin der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, nennt Beispiele für Konsequenzen des langsamen öffentlichen Perspektivwechsels. Im Afrikanischen Viertel im Berliner Ortsteil Wedding sei die Umbenennung von Straßennamen weit gediehen: “Das ist ein erinnerungspolitisches Zeichen nach einer Dekade des Streits über politische Korrektheit.” Der Afrikastein auf dem Friedhof Columbiadamm in Berlin-Neukölln, gewidmet den 1907 getöteten deutschen Soldaten im Krieg gegen die Nama und Herero im heutigen Namibia, sei im Jahr 2009 um eine Tafel ergänzt worden, die auf die Opfer deutscher Kolonialherrschaft hinweist, berichtet Bürger: “Damals wurde der Begriff `Völkermord´ aber noch durch das Auswärtige Amt verhindert.” Inzwischen sei ein Umbruch in Geschichtsbildern und deren Konsequenzen in der Erinnerungskultur festzustellen. In diesem Zusammenhang hält Bürger es für wichtig, Afrika nicht pauschal zu problematisieren: “Wir müssen jenseits des Negativen einen anderen Zugriff auf diesen Kontinent finden.”
Unrecht und Rückgabe
Eine Diskussion über die Rückgabe von aus Afrika stammenden Exponaten europäischer Museen kreist um das größte montierte Dinosaurierskelett der Welt im Lichthof des Berliner Naturkundemuseums: Die Knochen wurden um 1909 in Tansania entdeckt und nach Deutschland gebracht, wo sie von deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammengesetzt wurden. “Wem gehört der Dino?”, fragt Aguigah und bezieht sich auf Verhandlungen mit einem Museum in Tansania, das Ansprüche auf den Fund erhebt. Bürger hält die seit zwei Jahren neu aufkeimende generelle Restitutionsdebatte für wesentlich: “Wir müssen das Unrecht in der Erwerbsgeschichte von Sammlungen aufklären.” Gespannt sein dürfe man hier auch auf die Präsentationen des neuen Humboldt Forums im Berliner Schloss. “Vielleicht müssen wir Wege finden, Exponate zu teilen”, sagt Bürger und fügt hinzu: “Reicht eine Kopie eines Skeletts nicht aus, während wir die Knochen als Forschungsgegenstand weltweit zugänglich machen?”
Das Herrenhäuser Forum zum kolonialen Erbe war gut besucht. (Foto: Philip Bartz für VolkswagenStiftung)
Weltwissen und europäische Ideen
Krüger pflichtet bei: “Wir müssen den Zugriff auf Weltwissen als Auftrag und Recht Europas hinterfragen.” Interessant sei dabei auch die Frage nach komplexen wissenschaftlichen Verknüpfungen: “Gehören Akten, Dokumente, Wissen und Forschung untrennbar zu den Knochen eines Dinosauriers?” Eckert, der am Prozess um das Humboldt Forum beteiligt ist, stimmt den Kolleginnen zu: “Warum erheben fast nur europäische und nordamerikanische Institutionen den Anspruch, das Wissen der Welt zu verwalten?” Auch an der Debatte über die Rückgabe von Exponaten nach Afrika nehmen vor allem Europäer teil. Vielleicht, so Eckert, brauche eine neue Erinnerungslandschaft auch ganz neue Konzepte: “Europäische Ideen von Museum müssen nicht auf Afrika übertragbar sein.” Es gelte, möglichst viele Positionen auch aus Afrika dazu zu hören und letztlich zu fragen: “Wie gehen wir mit unserer gemeinsamen Geschichte um?”
Kisten und Ansprüche
Gouaffo benennt Fälle aus der Restitutionsdebatte, die er für eindeutig hält: “Viele Objekte liegen seit 100 Jahren in Kisten und wurden noch nie ausgestellt.” Bei Exponaten, die aus spirituellen Zusammenhängen gerissen wurden, sei eine Rückgabe zwar ebenfalls unstrittig, könne aber oft die bewusst ausgelösten kulturellen Zäsuren nicht mehr heilen. “Bei Strafexpeditionen und Raubzügen wurden Ritualobjekte und Herrschaftsinsignien oft gezielt entwendet, um Stolz zu brechen und Identitäten zu zerstören”, erläutert Gouaffo. Einen Anspruch auf Kulturgüter aus Afrika habe Deutschland grundsätzlich nicht, die Entscheidung über eine Rückgabe müsse bei den Herkunftsländern liegen. “Wenn die das wollen, muss Deutschland dann einfach mal gehorchen”, fordert Gouaffo. Und erklärt in Bezug auf das Dinosaurierskelett im Berliner Naturkundemuseum: “Wer das dann in Zukunft besichtigen will, soll das eben in Tansania tun – dann bringen die Touristen zudem noch Geld ins Land.”
Autor: Thomas Kaestle
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